BauSV 6/2023


Baurecht


Ingo Kern


Ziel und Grenzen von Kostenschätzungen in Gutachten

Alles hat seinen Preis


Der Beitrag befasst sich mit der Frage, wie genau Leistungs- und Kostenangaben in Gutachten sein können und welche Hinweise Sachverständige dazu geben sollten.


In Gutachten sollen vorrangig Tatsachen festgestellt, bei Schäden kausale Zusammenhänge geklärt, bei Mängeln die Erfüllung vertraglicher Inhalte sowie die Schadensgeneigtheit und Instandsetzungskosten bewertet werden. Sie können zur Bemessung des Schadenersatzes oder in einem selbstständigen Beweisverfahren lediglich zum Zweck der Streitwertfestsetzung (§ 3 ZPO) dienen.

Regelmäßig werden Sachverständige in Beweisbeschlüssen auch nach den Maßnahmen und Kosten gefragt. Wie genau aber können Leistungs- und Kostenangaben in Gutachten sein? Am besten wäre es, wenn der Gutachter die Positionen mit Rationalität, Geduld, Frustrationstoleranz und natürlich mit endgültiger Zuverlässigkeit zusammenbrächte. Was in Gutachten steht, kommt normenhierarchisch sowieso ganz knapp hinter den Zehn Geboten.

Die Wunschvorstellung der Gerichte und Parteien an die Genauigkeit leidet gelegentlich an einer Zuvielforderung. Betreffs Genauigkeit und Vollständigkeit werden bisweilen ausschreibungsfähige Instandsetzungsmaßnahmen, Planungen oder Leistungsphasen der HOAI vom Sachverständigen erwartet. Das ist ein durchaus rührendes Unterfangen. Ich hätte da, erfahrungsgestützt, ein paar Zweifel daran, dass ausschreibungsfähige Leistungsbeschreibungen nebst punktgenauen Kostenberechnungen in gerichtlichen Gutachten so einfach sind, da an Baumaßnahmen viele Fäden hängen, an denen viele Unternehmer ziehen.


Wertungs- und Bestimmtheitsgrenzen

Maßnahmen und Kostenschätzungen in Sachverständigengutachten befassen sich selten mit ganzen Gebäuden, sondern mit einzelnen Teilen davon. Sie beruhen auch nicht auf einer Architekturplanung. Kostenschätzungen von Architekten behandeln im Allgemeinen das gesamte Bauwerk mit zahlreichen Gewerken in einer Mixtur aus technischen Abhängigkeiten, Routinen sowie Organisationszusammenhängen.

Robuste Schätzungen in der Gesamtarchitektur sind wie »Straßenköter«: Mischungen, Kreuzungen, Resultate der Begegnung des Soliden mit dem Schludrigen, des Höchsten mit dem Niedrigsten, des Nächsten mit dem Fernsten, wie die allgemeine Vorstellung, dass Mischlingshunde robuster seien als Rassehunde.

Denn wie die genetische Gemengelage beim Straßenköter sind auch gute Schätzungen ein Varietätengefüge. Sie profitieren unterm Strich vom Zusammenwirken der ganz normalen Nachteil-Vorteils-Kombinationen im gegenseitigen Ausgleich – von dem einen zu viel und von dem anderen zu wenig. Und wenn die Vielfalt groß ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass im Resultat Defekte auftreten, automatisch geringer. Der metaphorische Vergleich mit dem »Straßenköter« ist weit hergeholt, das muss ich eingestehen; andererseits aber müssen auch Sie zugeben, ein schwer zu knackendes Argument: Die Mischkalkulation macht's.

Kosteneinschätzungen in Gutachten befassen sich jedoch nicht mit dem Genom eines gesamten Gebäudes, sondern nur mit einzelnen Genen – solitären Arbeitsschritten oder Einzelgewerken. Sie weisen daher einen vergleichsweise geringen Genauigkeitsgrad auf und dürfen nicht mit der robusten Kostenschätzung eines Architekten in der Leistungsphase 2 der HOAI verwechselt werden.

Die Frage nach der Höhe der Kosten einer aufwendigen Mängelbeseitigung kann einem Sachverständigen daher Schwierigkeiten bereiten, stellte das OLG Koblenz fest. [1] Die Kostenschätzung nach HOAI ist eine Architektenleistung. Sie beinhaltet die Ergebnisse der Vorplanung, insbesondere Planungsunterlagen und zeichnerische Darstellungen, Mengenberechnungen von Bezugseinheiten der Kostengruppen nach DIN 277-1 [2], erläuternde Angaben zu den planerischen Zusammenhängen, Vorgängen und Bedingungen sowie Angaben zum Baugrundstück und zur Erschließung.

Diese Gliederungstiefe ist dem Sachverständigen meist fremd. Er wird auch nicht nach HOAI bezahlt, sondern nach JVEG vergütet. Und das ist ein Unterschied wie zwischen einem Mann, der eine köstliche Currywurst verzehrt und einem Mann, der ein Buch über Currywürste liest. Das ist ein Unterschied. Die HOAI-Leistung ist Aufgabe eines Architekten und mit den Kostenangaben eines Gutachtens so übereinstimmend wie die Differenzierung zwischen einem Clownfisch und einem Zackenbarsch. Soweit ich weiß, spricht alles dagegen.


Das Virtuelle dominiert das Reale

In der Theorie gibt es gelegentlich, wie auch in der Wirklichkeit, ganz andere Blüten. Ziemlich unrealistisch, will mir scheinen, verfährt der lichtvolle Beschluss des OLG Hamm. [3] Es gelangte zur Überzeugung, dass ein (gerichtlicher) Sachverständiger im Rahmen eines Beweisverfahrens auch eine baureife Sanierungsplanung zu projektieren habe.

So seien vom Sachverständigen auch umfangreiche Planungsleistungen, die die Leistungsphasen 5 (Ausführungsplanung: Ausführungs-, Detail- und Konstruktionszeichnungen, Flächen- und Volumenberechnungen, Überprüfen erforderlicher Montagepläne usw.) und 6 (Vorbereitung der Vergabe: Ausschreibung, Angebotseinholung, Kostenanschlag, Vergabeterminplan usw.) der HOAI umfassen können, zu entwickeln, wenn sie zur Beweissicherung – insbesondere für die Bemessung des Mängelbeseitigungsaufwands – erforderlich seien.

Wer Zeit für Gedankenabenteuer hat, kann sich einmal eine halbe Stunde hinsetzen und überlegen, ob der Gutachter auch nach HOAI bezahlt wird, wenn das OLG Hamm ihm die Leistungsphasen 5 und 6 überantwortet. Denn es kann schließlich keinen grundlegenden Aspekt dieses Urteils darstellen, eine Leistung nach HOAI zu verlangen und eine Bezahlung nach JVEG nach sich zu ziehen.

Das ist – man verzeihe die begriffliche Kleinrahmigkeit – in einem atemberaubenden Maß verdreht und recht starker Tobak, nicht nur für Laien, sondern auch für Sachverständige, die nicht über die logistische Ausstaffierung eines Planungsbüros verfügen, sagen wir über Autodesk-Lizenzen und AVA-Arbeitsplätze. Solche Tätigkeiten fallen typischerweise in den Kompetenzbereich von Planern und Bauüberwachern, die die einzelnen Arbeitsschritte planen, ausschreiben, verfolgen und somit nachvollziehen können. [4]

Die Werkplanung und Ausschreibung sind komplexe Vorgänge und gehörten (schon immer) zu den ureigensten Aufgaben eines Architekturbüros. Denn leider ist es hier wie auch sonst in der modernen Welt: Die Dinge sind meist komplizierter, als man denkt, und entgegen weitverbreiteter Annahme kann nicht jeder alles können müssen.

Kommt es der Partei auf eine genaue Kostenermittlung an, teilt der Rechtsanwalt dem Richter mit, dass aufgrund der besonderen Umstände dieses konkreten Falls ein mit der Planung und Bauüberwachung besonders geschulter und erfahrener Spezialist benötigt wird. [5] Das ist sowohl richtig als auch schön gesagt, allerdings selbstverständlich.


[1] IBR 2014, 385; OLG Koblenz, Beschluss vom 02.09.2013 – 5 W 481/13

[2] DIN 277-1:2016-01 Grundflächen und Rauminhalte im Bauwesen – Teil 1: Hochbau

[3] IBR 2014, 191; OLG Hamm, Beschluss vom 09.01.2014 – 17 W 38/13

[4] Zöller IBR 2014, 523

[5] Prof. Jürgen Ulrich, Vorsitzender Richter Landesgericht a.D. in »Anwaltliche Strategien im Sachverständigenrecht – Zum effektiven Umgang mit Gutachte(r)n«

 
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