BauSV 2/2024


Baurecht


Klaus-Udo Reichelt


Unvollständiges und/oder mangelhaftes Gerichtsgutachten

»Nacherfüllungsrecht« des Gerichtssachverständigen? Einfluss auf den Vergütungsanspruch?


1. Rechtsgrundlagen der Tätigkeit des Gerichtssachverständigen [1]

Zur Beantwortung der Fragen, ob dem Gerichtssachverständigen (GSV) im Fall eines von ihm erstatteten, unvollständigen und/oder mangelhaften Gerichtsgutachtens (GGA) ein »Nacherfüllungsrecht« zusteht und welchen Einfluss Unvollständigkeiten bzw. Mängel auf den Vergütungsanspruch des GSV haben können, bedarf es einer Klärung der Rechtsgrundlagen, auf deren Basis der GSV sein GGA erstattet.

Bürgerlich-rechtliche Vorschriften, wie Dienstvertrags- und Werkvertragsrecht, gelten nicht, weil der Stellung des GSV als Gehilfe des Gerichts mit einer gewissen, inneren Unabhängigkeit Rechnung getragen werden muss. [2] Das Rechtsverhältnis zwischen dem Gericht – tatsächlich dem jeweiligen Träger der Justiz – und dem GSV ist öffentlich-rechtlicher Natur (»Heranziehungsverhältnis«). Die Rechte und Pflichten des GSV sind in den einzelnen Verfahrensgesetzen, u.a. der ZPO sowie in dem JVEG, geregelt, die dem öffentlichen Recht angehören. [3] Aus der ZPO kommen §§ 404a, 412 als maßgebliche Normen in Betracht, aus dem JVEG § 8a.


2. Welche Anforderungen muss das GGA eines GSV erfüllen?

In der Literatur [4] wird vertreten, dass das GGA eines GSV folgende Anforderungen erfüllen muss:

2.1 Grundsätzliches

Den Gerichtssachverständigen treffen folgende grundsätzliche Pflichten:

  • die Pflicht, den Gutachtenauftrag persönlich auszuführen,
  • die Pflicht, den Anspruch der Parteien auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu beachten (z.B. Recht der Parteien auf Teilnahme am Ortstermin), und
  • die Pflicht, die Gebote der Transparenz und der prozessualen Fairness zu beachten.


2.2 Formale Anforderungen

In formaler Hinsicht ist der GSV strikt an den Gutachtenauftrag gebunden. Das bedeutet, er muss sein Gutachten unter Einhaltung der Grenzen seines eigenen Fachwissens mit übersichtlicher Gliederung, klaren Aussagen in verständlicher Sprache und mit rationaler Argumentation erstatten und sich dabei auf das Wesentliche konzentrieren. Er muss dabei Ausführungen zu rechtlichen Fragen vermeiden. Hierbei übernimmt er die persönliche Verantwortung für das Gutachten.


2.3 Inhaltliche Anforderungen

In inhaltlicher Hinsicht muss der GSV die gestellten Fragen präzise und vollständig beantworten. Die Antworten sind zu begründen, unter Kennzeichnung von Unsicherheiten und Wahrscheinlichkeiten. Der GSV muss also auch Angaben zur Genauigkeit seiner Aussagen machen. Ferner muss er die a.a.R.d.T. beachten. Mit unterschiedlichen Meinungen in der Fachliteratur muss er transparent umgehen. Insgesamt muss das Gutachten nachvollziehbar sein.


2.4 Objektivitätsgebot

Bei der Gutachtenerstattung gilt das Gebot der Objektivität. Das bedeutet, der GSV muss unparteilich sein und jeden Anschein der Voreingenommenheit vermeiden. Ferner sollte er unnötige Werturteile vermeiden.


2.5 Sorgfalt und Verlässlichkeit

Der GSV muss seine Untersuchungsergebnisse sorgfältig auswerten. Seine fachlichen Schlussfolgerungen müssen für das Gericht als Auftraggeber verlässlich sein.


3. Arten einer »Nacherfüllung«

Wenn das Gerichtsgutachten unvollständig und/oder mangelhaft ist, stellen sich verschiedene Fragen: Kann bzw. soll das Gutachten vervollständigt werden? In welcher Hinsicht? Sind dafür weitere Untersuchungen erforderlich? Oder reicht es aus, die bisherigen Ausführungen zu ergänzen? Muss die Begründung ergänzt werden? Ist eine (vertiefte) Auseinandersetzung mit der Fachliteratur nötig? Evtl. werden dabei aber auch Beweisfragen erstmalig beantwortet. Kann dies ggf. zu einer inhaltlichen Änderung des Gutachtens führen? Oder muss in diesem Fall ein neues Gutachten erstattet werden?


4. Unvollständigkeit bzw. Mangelhaftigkeit eines GGA

4.1 § 8a JVEG

  • 8a JVEG differenziert zwischen einer
  • mangelhaften Leistung gem. § 8a Abs. 2, 1 Nr. 2 JVEG
  • und einer unvollständigen Leistung gem. § 8a Abs. 2, 1 Nr. 4 JVEG.

Nach der Gesetzesbegründung [5] soll § 8a Abs. 2 S. 1 Nr. 4 JVEG den Fall regeln, dass der GSV seine Leistungen trotz zweier Nachfristen und zweier Ordnungsgelder nicht erbringt. Insoweit bestehen keine Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen mangelhafter und unvollständiger Leistung des GSV.

Dagegen ergeben sich Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen unvollständiger und mangelhafter Leistung, wenn der GSV sein Gutachten zwar rechtzeitig vorlegt, dieses allerdings unvollständig ist, weil der GSV z.B.

  • eine Beweisfrage überhaupt nicht behandelt,
  • eine Beweisfrage zwar beantwortet, allerdings ohne Begründung, sodass das GGA insoweit nicht nachvollziehbar ist.

In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob das GGA des GSV wegen der nicht behandelten Beweisfrage bzw. der fehlenden Begründung für die Antwort auf die Beweisfrage mangelhaft oder unvollständig ist.


Das gesetzliche Werkvertragsrecht, das auf das Rechtsverhältnis zwischen Gericht und GSV nicht anwendbar ist, differenziert wie folgt:

Vor Abnahme der Werkleistung des Unternehmers wird unterschieden zwischen mangelhafter und unvollständiger Leistung. Die Werkleistung des Unternehmers muss vollständig erbracht sein, damit die Werkleistung abnahmereif ist. Fehlt es an der vollständigen Leistungserbringung, hat der Unternehmer keinen Anspruch auf Abnahme seiner Werkleistung.

Nach der Abnahme gibt es diese Differenzierung nicht mehr. § 633 Abs. 2, 3 BGB stellt die unvollständige Leistung (»Werk in zu geringer Menge hergestellt«) einem Sachmangel gleich. [6] Dadurch sollen Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen mangelhafter und unvollständiger Leistung vermieden werden. [7]

Der Gesetzgeber des JVEG hat sich für eine Differenzierung zwischen mangelhafter und unvollständiger Leistung entschieden und dadurch für die Praxis Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen beiden begründet. Gerichte und Verfahrensbeteiligte müssen deshalb im Einzelfall darauf achten, dass Schlechtleistungen von GSV in die richtige Kategorie eingeordnet werden. Beim Fehlen z.B. einer Beantwortung einer Beweisfrage oder einer Begründung für eine gegebene Antwort auf eine Beweisfrage dürfte jeweils eine unvollständige Leistung des GSV vorliegen, sodass eine Kürzung seines Vergütungsanspruchs nur unter den Voraussetzungen des § 8a Abs. 2, 1 Nr. 4 JVEG in Betracht kommt (vgl. Ziff. 4.2.2).


4.2 Unterschiedliches Vorgehen des Gerichts bei mangelhafter Leistung gem. § 8a II, 1 Nr. 2 JVEG und unvollständiger Leistung gem. § 8a II, 1 Nr. 4 JVEG

4.2.1 Mangelhafte Leistung

Bei einer mangelhaften Leistung des GSV kommt ein Verlust des Vergütungsanspruchs des GSV erst dann in Betracht, wenn der GSV die Mängel seiner Leistung nicht binnen einer ihm durch die »heranziehende Stelle« gesetzten angemessenen Frist beseitigt hat. Einer Fristsetzung bedarf es nicht, »wenn die Leistung grundlegende Mängel aufweist oder wenn offensichtlich ist, dass eine Mängelbeseitigung nicht erfolgen kann«.


4.2.2 Unvollständige Leistung

Dagegen verliert der GSV seinen Vergütungsanspruch bei einer unvollständigen Leistung erst dann, wenn das Gericht folgende Voraussetzungen eingehalten hat:

(1) Das Gericht hat dem GSV eine Frist gesetzt, innerhalb der er das von ihm unterschriebene GGA zu übermitteln hat;

(2) das Gericht hat dem GSV nach Versäumung der zu (1) genannten Frist eine Nachfrist zur vollständigen Erbringung seiner Leistung mit Androhung eines Ordnungsgeldes gesetzt;

(3) das Gericht hat nach fruchtlosem Ablauf der Nachfrist ein Ordnungsgeld gegen den GSV verhängt;

(4) das Gericht hat dem GSV eine weitere Nachfrist zur vollständigen Erbringung seiner Leistung gesetzt und ein weiteres Ordnungsgeld angedroht;

(5) das Gericht hat das weitere Ordnungsgeld rechtskräftig verhängt. Mit der Rechtskraft des weiteren Ordnungsgeldbeschlusses erlischt der Vergütungsanspruch des GSV. [8]

 

[1] Dem Aufsatz liegt ein Vortrag des Autors auf einer Veranstaltung des Hamburger Baurechtskolloquiums vom 14.11.2023 zugrunde.

[2] BGH, Urteil vom 18.12.1973, VI ZR 113/71, BGHZ 62, 54–63, Rn. 18; OLG München, Beschluss vom 02.12.1994, 11 WF 1015/94 (juris), Rn. 7 f., OLGR München 1995, 144

[3] BGH, Urteil vom 05.10.1972, III ZR 168/70, zit. nach juris; Rn. 8

[4] Grossam, in Bayerlein/Bleutge/Roeßner, Praxishandbuch Sachverständigenrecht, 6. Aufl. 2021, § 17; Westphal, in Bayerlein/Bleutge/Roeßner, a.a.O., §§ 28, 29

[5] BT-Drs. 17/11471, 260

[6] Voit, in Hau/Poseck/Bamberger/Roth, BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2022, § 633 BGB Rn. 18

[7] Popescu, in Leupertz/Preussner/Sienz, Bauvertragsrecht, 2. Aufl. 2021, § 633 BGB Rn. 16a

[8] Binz, in Binz/Dörndorfer/Zimmermann, GKG FamGKG JVEG, 5. Aufl. 2021, § 8a JVEG Rn. 16


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