
»Alles nach Norm? Normen und Regelwerke aus Sachverständigensicht« | Am 17. März 2022 fand die Fachtagung »Der Bausachverständige« nunmehr zum zehnten Mal statt
Das runde Jubiläum unserer Fachveranstaltung hätten wir sehr gerne zum Anlass für eine Feier genommen. Daher sei an dieser Stelle ein kleiner Rückblick in eigener Sache gestattet: Als wir am 17.11.2006 mit der ersten Fachtagung »Der Bausachverständige« zur Innenraumqualität in Stuttgart starteten, war es unser Anliegen, uns von anderen Fachveranstaltungen für Bausachverständige aller Gewerke und Fachrichtungen abzugrenzen.
Gemäß dem Motto unserer Fachzeitschrift wollten wir auch im Rahmen einer Tagung den Blick über den Tellerrand der eigenen Fachgebiete von der Technik ins Recht und zurück ermöglichen, vor allen Dingen durch den Austausch zwischen Ingenieuren, Architekten und Baujuristen.
Dass uns dies gelungen ist, zeigt die Erfolgsgeschichte unserer Fachtagungen, die wir seither regelmäßig zu praxisrelevanten Themen rund um die Sachverständigentätigkeit veranstaltet haben. Unsere Veranstaltungen sind aufgrund des hohen fachlichen Niveaus schon seit längerer Zeit von den Architekten- und Ingenieurkammern als Fortbildungsveranstaltungen anerkannt, sodass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für ihre fachliche Fortbildung auch bei uns sprichwörtlich punkten können.
Die Corona-Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen zwang uns dazu, das Tagungskonzept neu zu überdenken. Unter den andauernden Rahmenbedingungen der Pandemie wurde die Tagung nunmehr zum zweiten Mal als Online-Veranstaltung – ohne präsentes Publikum – aus dem Verlagshaus in Köln live übertragen. Ohne große Jubiläums-Feierlichkeiten.
Vor Ort anwesend waren das Redaktionsteam, drei Referenten sowie drei Mitarbeiterinnen der Reguvis Fachmedien, die im Hintergrund für eine reibungslose technische Abwicklung sorgten. Die Hauptpersonen – 132 Teilnehmerinnen und Teilnehmer – lauschten den spannenden Vorträgen an ihren Bildschirmen im Büro oder im Homeoffice. Dabei war es wie bei einer Präsenzveranstaltung möglich, den Referenten Fragen zu stellen, mit ihnen in eine Diskussion einzutreten. Dazu gab es eine virtuelle Fachausstellung.
Den ersten Fachvortrag der 10. Fachtagung »Der Bausachverständige« hielt unser Beirat Dipl.-Ing. Helge-Lorenz Ubbelohde, ehemaliger b.v.s.-Vizepräsident und öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Schäden an Gebäuden. Seine Vortragsthema lautete »Die Pflicht des Sachverständigen zur Normenkritik«.
Die Kritik der Sachverständigen an Normen ist eine Möglichkeit der Einflussnahme. Das DIN reagiert als Institution darauf und entwickelt mittlerweile ein offenes Ohr für entsprechende Hinweise. Dabei sind die Reaktionen des DIN zunehmend konstruktiver. Nach Ansicht des Referenten besteht daher – erst recht – eine Pflicht zur Normenkritik, um Kontrollfunktionen wahrzunehmen. Diese eigentlich als Selbstkontrolle beim DIN angelegte Kontrollfunktion funktioniert nämlich in der Praxis nicht.
Den nächsten Vortrag hielt Dipl.-Ing. Gerhard Klingelhöfer BDB zur neuen Radonschutz-Norm DIN/TS 18117–1. »TS« steht für »technical specification«. Er referierte vor allem über die neue Radon-Norm sowie – nebenbei – über vier Jahre Praxiserfahrungen mit den Abdichtungsnormen (DIN 18531 bis 18535). Bauen ist der Kampf gegen die vier Grundelemente. Sein Fazit zum Radonschutz für Planer lautet, dass die Radonproblematik bei der Errichtung von Aufenthaltsräumen oder Arbeitsplätzen mit dem Bauherrn und Auftraggeber zu besprechen und in der Bedarfsplanung sowie wie im Weiteren zu berücksichtigen ist.
Dabei seien der gesetzliche Referenzwert 300 Bq/m3 oder niedriger als Auslegungswert für die Planung der zu schützenden Räume und Bereiche festzulegen und die einschlägigen Landesvorschriften zu beachten. In Baugrundgutachten müsse zudem die Radonkonzentration der Bodenluft festgestellt werden, wobei ab dem 31.12.2020 auch eine Radonprognose und die Lage des Objekts bezüglich Radonvorsorge zu bestimmen sei.
In Radongebieten sei zudem die Strahlenschutzverordnung zu beachten. Der Radonschutz umfasse hierbei die Planung baulicher Maßnahmen der erdberührten Bauteile sowie – nach Fertigstellung – Radon-Raumluftmessungen in den erdnahen Aufenthaltsräumen bzw. Arbeitsstätten als Erfolgskontrolle.
Nach der Kaffeepause folgte der rechtliche Vortrag zu Technischen Regelwerken (DIN-Normen etc.) aus richterlicher Sicht. Es referierte unser Beirat Dr. iur. Mark Seibel, Vizepräsident des Landgerichts Siegen. Ausgehend von den gesetzlichen Vorschriften zu Mängelansprüchen in § 633 BGB und § 13 VOB/B stellte er die allgemeingültige Definition der allgemein anerkannten Regeln der Technik dar, gefolgt von einer Übersicht über die technischen Standards sowie über Konkretisierungsmöglichkeiten der allgemein anerkannten Regeln der Technik durch DIN-Normen, ETB, VDI-Richtlinien, die Flachdachrichtlinie aber auch mündlich überlieferte technische Regeln sowie evtl. auch Herstellervorschriften.
Da die Normen keine Rechtsnormen darstellen, sondern lediglich private technische Regelungen mit Empfehlungscharakter, folgte sodann eine Darstellung der widerlegbaren Vermutungswirkung von DIN-Normen im Kontext technischer Regelwerke und der Beweislast im Bauprozess. Zu beachten sei ferner, dass es auch Konkretisierungsmöglichkeiten der allgemein anerkannten Regeln der Technik außerhalb schriftlicher technischer Regelwerke gebe, beispielsweise durch Analyse von Statistiken oder den fachlichen Erfahrungsaustausch in Sachverständigennetzwerken.
Der Referent gab eine Prüfungsempfehlung bezüglich technischer Regelwerke durch eine vierstufige Prüfung. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt sei dabei grundsätzlich der Zeitpunkt der Abnahme. Sein Fazit: Im Hinblick darauf, dass sich die Bautechnik ständig fortentwickelt, bedürfen Regelwerke einer strengen Prüfung, ob sie noch die anerkannten Regeln der Technik wiedergeben. Diese Aufgabe kann nur von Sachverständigen vorgenommen werden.
Die im Anschluss folgende lebhafte Diskussion mit zahlreichen Fragen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer beleuchtete viele zusätzliche praktische Aspekte beim Umgang mit DIN-Normen, z.B. zu örtlichen Unterschieden bei der Beurteilung von a.R.d.T. oder zu den Kosten einer ggf. gerichtlichen Überprüfung von DIN-Normen als a.R.d.T. Hier hätte man auch noch den ganzen Nachmittag weiter diskutieren können.
Nach der Mittagspause folgte der Vortrag von Professor Rainer Pohlenz zur aktuellen DIN 4109–1 (Schallschutz im Hochbau) als (immer noch keine) a.R.d.T.? Zivilrechtlich sind die Anforderungen dieser DIN-Norm problematisch. Denn der gemäß DIN 4109-1 bauaufsichtlich festgelegte Mindestschallschutz sei obligatorisch einzuhalten. Er müsse nicht gesondert vereinbart werden. Wird er aber vereinbart, muss über eine ggf. zu geringe Schalldämmung aufgeklärt werden.
Nach einer Darstellung von Grundlagen und Zielsetzungen der DIN 4109 folgte ein Überblick über das bewertete Schalldämmmaß und Spektrum-Anpassungswerte nach ISO 717-1 sowie über den erforderlichen Schallschutz in Abhängigkeit vom Grundgeräusch und über dessen Wirksamkeit.
Beleuchtet wurden sodann die Anforderungen der DIN 4109-1 in Bezug auf den Wohnungsbau und den Nichtwohnungsbau auch im Vergleich zu dem in Deutschland üblichen Schallschutz. Dabei ging der Referent auch auf die Anforderungen an den Schallschutz von Außenbauteilen und Verkehrslärmspektren ein. Sein Fazit: »Wenn man durch Nachdenken einen besseren Schallschutz bekommt, dann sollte man das machen.«
Im Anschluss folgte das Statement von Professor Dipl.-Ing. Matthias Zöller zu »Das Ende der a.R.d.T.?« Anerkannte Regeln der Technik sind zentrale Bestandteile aller Bauverträge. Sie lassen sich aber regelmäßig nicht feststellen, da sie nicht mit Regelwerken gleichzusetzen sind. Daher kommt den Baubeteiligten, Planern, Ausführenden und auch Sachverständigen die Aufgabe zu, technische Sachverhalte aufzuklären. Sie dürfen dabei nicht nur auf die Regelwerksvorgaben abstellen!
Anerkannte Regeln der Technik beinhalten nur ein technisches Element, nämlich das der Richtigkeit einer Konstruktion. Dabei sei die Praxisbewährung angesichts der heutigen Produktentwicklungsgeschwindigkeit langsamer als die Produktänderungen. Bauschaffende könnten mit dem Begriff »anerkannte Regeln der Technik« grundsätzlich Probleme bekommen, da sie möglicherweise einzelne Kriterien selbst bei uneingeschränkt brauchbaren Leistungen nicht nachweisen können.
Letztlich gehe es darum, ob eine Bauleistung für die vorgesehene Nutzungsdauer bei zu erwartenden Einwirkungen und üblichen Instandhaltungen uneingeschränkt brauchbar sei. Sachverständige sollten die Frage nach der Brauchbarkeit zumindest einschätzend beantworten. Insbesondere bei Bauschäden seien die kausalen Zusammenhänge zu klären. Regelwerke könnten hierbei eine Orientierung bieten, seien aber kein absoluter Maßstab oder technischer Zwang.
Den Schlussvortrag referierte Martin Schauer von der HwK für Unterfranken, ö.b.u.v. Sachverständiger im Elektrotechniker Handwerk und elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder. Sein Thema »Außerparlamentarische Normenarbeit durch ö.b.u.v. Sachverständige am Beispiel der DIN 18014« beinhaltete zahlreiche praktische Aspekte der teils mangelnden Transparenz von DIN-Normungsverfahren.
Öffentlich bestellte und vereidigte Sachverständige haben sich durch ihren Eid auf die Sachverständigenordnungen zur gewissenhaften Erledigung der Gutachten verpflichtet, jedoch nicht zu Normenarbeit. Dies verpflichte aber auch, die Regelwerke auf Anwendbarkeit, physikalische Richtigkeit sowie alternative Lösungen zu prüfen.
Dabei hänge der Rechtsfrieden auch vom kritischen Umgang der Sachverständigen mit technischen Regelwerken ab. Denn gerade die Gerichte oder privater Auftraggeber müssten bei der Gutachtenerstellung darauf vertrauen können, dass Sachverständige gewissenhaft arbeiten. Dennoch sei eine Mitarbeit von Sachverständigen in Normungs-Gremien durchaus kritisch zu sehen.
Dass die Veranstaltung insgesamt ein großer Erfolg war, zeigte sich auch der Umstand, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bis zum Ende des Schlussvortrags vollzählig eingeloggt waren.
Die 11. Fachtagung »Der Bausachverständige« wird am 16. März 2023 stattfinden. Wir werden uns auch für das kommende Jahr wieder spannende Themen für Sie überlegen. Wenn die Umstände es erlauben, wäre es natürlich schön, wieder eine Präsenzveranstaltung in Köln mit einer echten Fachausstellung zum Anfassen durchführen zu können. Sind Sie auch das nächste Mal mit dabei? »Save the date.«
Die Redaktion »Der Bausachverständige«